Rapunzels Bart
Mein alter Freund Jean-Jaques Rousseau formulierte es trefflich so: “Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern dass er nicht tun muss, was er nicht will.” Gut beobachtet. Aber weil man da zwei Mal drüber nachdenken muss, alles der Reihe nach:
Noch vor ein paar Wochen erschien uns unsere selbstverständliche Freiheit, also das gewohnte Leben, wie ein mühseliges Gefängnis: das ewige pünktlich-aufstehen-und-zur-Arbeit-fahren-Müssen, das nein-ich-mag-nicht-schon-wieder-in-der-Stadt-brunchen-Müssen und das mein-Gott-ich-muss-Jeans-kaufen-das-dauert-wieder-den-ganzen-Nachmittag-Müssen. Ganz zu schweigen vom Haaransatz-nachfärben-Müssen und dem Hornhaut-wegraspeln-(lassen)-Müssen. Viel Müssen in einer Welt aus selbst gemachtem Sollen.
Interessanter Weise erschließt sich uns gerade jetzt, innerhalb der Mauern des #stayhome-Gefängnisses, viel Nicht-Wollen in einer Welt aus Nicht-Müssen. Und hier bin ich wieder bei Jean-Jaques: Tun zu können, was man will, ist harte Arbeit (siehe dazu auch den Blog “Ich muss mal …”), und daher kaum vorstellbar. Aber: Nicht tun zu müssen, was man nicht will, das ist leicht, da haben wir in der Sekunde Bilder im Kopf. In der nächsten ZIB 2 werde ich übrigens die Herren Marktforscher aus dem Fernsehbild stoßen und die verstörenden Ergebnisse meiner Umfrage im verhaltensauffälligen Freund- und Nachbarschaftskreis präsentieren, die umgelegt auf die Gesamtbevölkerung keine Schwankungsbreite zulassen und im schlimmsten Fall zum Zusammenbruch der Kosmetikindustrie führen werden:
Wenn wir nicht müssen, was wir nicht wollen, verliert der vom bösen Corona im Turm eingesperrte ÖsterreicherIn seine parfümierte Kultiviertheit und verwandelt sich und seine Kemenate in Null Komma Nix in den tief im Stammhirn verankerten Urzustand: in einen steinzeitlichen Höhlenbewohner. Da ist zum Beispiel die stets vorbildlich gepflegte Bekannte S., die dem Drängen ihres Bank-Abteilungsleiters, sie möge doch die Laptopkamera bei der Videokonferenz einschalten, wider besseren Wissens nachgab. Nach dem Anblick des Amselnestes auf ihrem Kopf, des nur noch von schwachen Nähten zusammengehaltenen Textils auf ihrem Leib und des Volksschülerchaos’ im Bildhintergrund, wiederholte er diesen Wunsch kein zweites Mal. Da ist die Nagellackfetischistin B., die neuerdings begeistert ist von dem sich-nicht-schminken-Müssen und die zum Kochen ihr - wie sie betont - schmutziges Nachthemd trägt (ich weiß es, weil sie darin auch auf der Terrasse paradiert). Übrigens eine Marotte, der auch mein Sohn anhängt, der zum Mistkübel runter Tragen eine Jogginghose ÜBER seiner langen Pyjamahose trägt, die seit Beginn der Quarantäne mit ihm verwachsen ist. Ich vermute ein frühpubertäres Zeichen der Rebellion gegen das Home-Schooling-Establishment. Da ist Freund P., der die Quarantäne verflucht, weil seine Gattin sich weigert, ihre natürliche Körperbehaarung weiterhin zu zähmen, zu trimmen und zu ondulieren und darob die ehelichen Pflichten - möglicherweise aus Orientierungslosigkeit im wachsenden Gebüschdschungel - bis auf weiteres ausgesetzt sind.
Und da bin ich selbst. Streberin wie ich bin, körperpflege ich mich brav wie bisher, sehe aber dennoch einen Silberstreif. Nicht am Horizont, nicht in der Zukunft, aber auf meinem Kopf. Der Nachwuchs misst mittlerweile 10 cm und ich bin geneigt, ihn als Zeichen des Protests gegen geschlossene Friseursalons zur Schau zu stellen, wenn ich die Höhle verlasse. Mein Mann hingegen ist da anderer Meinung und fragt empathisch: “Du setzt aber schon was auf, oder?”. Seither trendsette ich am Purkersdorfer Hauptplatz als beturbanter Elizabeth Taylor-FROHLOTTE-Verschnitt. Kürzlich videotelefonierte ich mit einer Freundin (übrigens die mit dem Rotweinglas aus dem Blog “Das Leben ist Hard Rock”), als sich ihr Mann ins Bild schob. Ich konnte nicht umhin, den einst top-gepflegten Herrn auf sein Taliban-Styling, das sich mit Fortdauer der Ausgangssperre zum Salafisten-Bart entwickelt, zu kommentieren. Er konterte mit der Frage, ob ich ab jetzt stets weissen Haarreifen trüge. Touché!
Der einzige Fels in der Brandung, die fleischgewordene Disziplin, ist wie immer der Mann an meiner Seite. Obwohl: Unser Sohn beklagt den Diebstahl einer Packung Mini-Osterhasen. Und die Kekse sind auch weg. Ich habe da einen Verdacht …
Unvollkommenheit ist Schönheit. Wahnsinn ist Genie
und es ist besser, absolut lächerlich zu sein als absolut langweilig.
Marilyn Monroe